Oh Gott, ich habe gerade mit meinem Arbeitskollegen über Inklusion und psychische Erkrankungen gesprochen. Ich erbreche möglicherweise gleich.
Ich kann die Argumente gerade schwer wörtlich wiedergeben, weil er eine sehr "diplomatische" Sprache hat, die sehr dumme Sachen, sehr nachvollziehbar klingen lässt.
Aber Quintessenz ist so ungefähr: Behinderte und psychisch Kranke haben sich der Welt anzupassen und sollen sich nicht als Opfer inszenieren.
Es gäbe keinen Grund eine Identität um seine Erkrankungen herum zu bauen. Und der Staat solle lieber von der Privatwirtschaft lernen, statt alles regulieren zu wollen. Und er habe selbst Probleme gehabt und hätte es gelöst.
Puh alter, wo soll ich anfangen?
1. Nein, "wir" haben uns nicht ausschließlich unserer Umwelt anzupassen. Das ist keine Einbahnstraße. Wir wollen alle frei und möglichst selbstbestimmt leben und es ist Aufgabe einer solidarischen Gesellschaft das allen Menschen zu ermöglichen.
2. Wir inszenieren uns nicht als Opfer. Wir werden zu Opfern der Gesetzgebung, der Ethik unserer Mitmenschen und manchmal unserer Hirnchemie. Dass wir lieber außerhalb von Mitleid und Diskriminierung stünden, sollte klar sein.
3. Ich kann nur für mich sprechen, aber ich baue keine Identität um meine Diagnosen, weil das so trendy ist, sondern weil ich muss, weil die sich nun mal nicht auswachsen und zu mir gehören und weil ich solidarisch sein möchte. Glaubt hier irgendwer, dass ich so offen über meine Diagnosen rede, weil ich es cool finde? Abgesehen von seltenen Fällen, in denen ich mich unbewusst aufwerte (Meist daran zu merken, dass ich die Tweets später lösche): Nein, tue ich nicht. Ich schreibe hier so offen über meine Diagnosen, weil ich solidarisch sein möchte. Der Weg zur Krankheitseinsicht und Selbstakzeptanz ist lang und unangenehm und ich möchte gerne teilen was ich gelernt habe. Vielleicht erkennt dadurch jemand was mit ihm oder ihr los ist oder nimmt was zum coping mit.
4. Alter, wenn sich die Privatwirtschaft um psychisch Kranke und behinderte kümmern soll, überlässt man Behinderte und kranke Menschen dem Wohlwollen von Leuten, die keine Ahnung von Inklusion haben. Natürlich gibt es große Unternehmen, die lobenswerter Weise Autismus- oder generell Behindertenprogramme anbieten. Aber das kann doch nicht die Lösung sein. Entspanntere Bürokratie bei der Anerkennung des GDB, klare Linie beim Mindestlohn, barrierefreie Vorgaben am Bau: Das kann und sollte alles der Staat regeln. Förderprogramme sollten vom Staat kommen. Wo sollen kleine Unternehmen denn im Zweifel das Geld für eigene herholen? Die Umsetzung von Menschenrechten darf ruhig Geld kosten, aber halt an der richtigen Stelle.
5. Dude, ich erkenne deinen Leidensweg absolut an. Ich beglückwünsche dich aufrichtig zu deinen Therapieerfolgen, aber nimm dir gefälligst nicht raus deine Erfolge von allen anderen zu verlangen. Das ist dermaßen vermessen. Ich finde es okay auf Nachfrage persönliche Empfehlungen auszusprechen, aber du hast keine Ahnung von dem was andere Menschen durchmachen.
Das ist doch kein scheiß Leistungswettbewerb. Nur, weil ich mit 8 Diagnosen aus der Klinik gekommen bin und heute einigermaßen klar komme, weil ich Tabletten bekomme, diverse Skills drauf habe, Kommunikation gelernt habe, ein passendes Umfeld habe, etc, etc. heißt das nicht, dass eine Person, die "nur" eine Diagnose hat sich jetzt an meinen Weg zu halten hat und sich nicht schlecht fühlen dürfte. Das zeigt auch nur wie wenig psychische Erkrankungen verstanden wurden.
Nur weil dir jemand z.B. initial sagt, dass er depressiv sei und deshalb Hilfe bräuchte, heißt das nicht automatisch, dass dein Wikipediawissen reicht um das Krankheitsbild dieser Person zu verstehen.
Depressive Symptome sind häufig der Grund warum man sich Hilfe sucht, aber oft liegen dem andere, eigentlich ursächliche Erkrankungen oder Störungen zu Grunde. Man spricht hier von Komorbidität.
Und das ist der Punkt: Leute müssen sich erstmal selbst verstehen, bevor sie sich ihrer Umwelt adäquat mitteilen können. Sie müssen sich aber vorher schon mitteilen, um überhaupt die Hilfe zu kriegen, die notwendig ist um sich selbst verstehen zu können. Deshalb wäre es hilfreich in einer Gesellschaft zu leben, die dir nicht vermittelt "Krank sein ist schlecht, weil du dann keine Leistung mehr bringst und seltsam bist. Wenn du ausfällst schadest du egoistisch deinen Mitmenschen und verdienst kein Geld mehr", sondern die dir die Hand reicht und versucht dich zu verstehen und dir nicht böse ist, wenn du Dinge neu aushandeln musst.
Vor der Klinik zum Beispiel stand bei mir der Verdacht einer bipolaren Störung im Raum. Dem entsprechend haben wir bei Dell meine Arbeit geplant und Absprachen getroffen. Als ich wiederkam hat sich gezeigt: Ich bin gar nicht bipolar. Wir mussten also neu planen und Überraschung: Das war kein Problem.